Zehn Fahrten, eine Mission – Hilfe, die ankommt

Am 21. Juni 2024 startete Uli Fößmeier gemeinsam mit seinem bewährten Mitfahrer Dieter zum zehnten Hilfstransport nach Chervonograd – unterstützt durch die Organisation Grenzenlose Kinderhilfe Penzberg. Die Jubiläumstour verband erstmals eine größere kulturelle Dimension mit der klassischen humanitären Hilfe: Nach dem Entladen der dringend benötigten Güter (darunter Generatoren, Schlafsäcke, Holzöfen und Rollstühle) nahm das Team an einem Feiertag voller Gedenken, Gemeinschaft und Symbolkraft teil – inklusive Kajaktour mit Soldaten im Heimaturlaub, bewegenden Friedhofsbesuchen und einem intensiven Ausflug nach Lviv. Dort wurde der Kontrast zwischen pulsierendem Stadtleben und allgegenwärtiger Kriegsrealität spürbar. Vom Luftalarm über improvisierte Stromausfälle bis hin zum Wodka-getränkten Karaoke-Abend wurde diese Fahrt zu einer emotionalen Mischung aus Erschütterung und Hoffnung. Ein Höhepunkt: Die Verleihung einer personalisierten „Hundemarke“ durch die Stadt Chervonograd – als Dank für zehn Fahrten voller Mut, Mitgefühl und praktischer Hilfe.

Originalbericht

21. Juni 2024: meine zehnte Fahrt. La Decima, wie es Raffa Nadal einmal gesagt hat, als er seinen zehnten Turniersieg im Tennis bei den French Open anstrebte (und erreichte). Letztlich wurden es bei Raffa 14 Siege in Paris. Mal sehen, wie weit die Parallele zu meinen Fahrten geht. Mitfahrer war Dieter. Ein großer Teil der Hilfsgüter kam von meinen Partnern aus Penzberg (Grenzenlose Kinderhilfe). Die Hinfahrt war ereignislos, und nach der traditionellen Pizza in Jaroslav bezogen wir ein Hotelzimmer nahe der ukrainischen Grenze. Am nächsten Tag in der Früh passierten wir die Grenze bei Hrebenne und erreichten Chervonograd ohne Zwischenfälle.

Dort war ein Feiertag (der „Tag des Trauerns und Gedenkens an Kriegsopfer“), und es ist an diesem Tag Brauch, die Häuser sommerlich zu schmücken mit grünen Pflanzen, die überall an kleinen Märkten verkauft wurden. Im Bild sieht man das am Stand unserer Freunde ganz links.

Der erste Programmpunkt war eine Kajakfahrt auf einem nahem Fluss. Für mehrere Stunden paddelten wir in drei Kanus den Fluss hinunter und genossen die ruhige Landschaft.

Unsere Schwimmwesten waren EU-finanziert. Es ist schön zu sehen, dass EU Förderungen in der Ukraine bereits greifen, obwohl das Land noch nicht dazugehört.

Die Kajaktour war Teil eines Freizeitprogramms, das benutzt wird um freiwilligen Helfern und auch Soldaten im Heimaturlaub Gelegenheit zur Erholung zu geben. Wir werden häufig in solche Programme einbezogen, um uns als Teil der ukrainischen Freiwilligengruppe zu etablieren und den lokalen freiwilligen Helfern als Vorbild und Motivation zu dienen. Als nach Ende der Flussfahrt die Kanus per LKW zurück zum Start gefahren wurden sahen wir auch Soldaten, die kurz vor uns die gleiche Tour gemacht hatten.

An der Stelle, wo die Boote in den Fluss eingesetzt wurden gab es einen Picknickplatz, wo wir wie üblich mit Fleisch- und vegetarischen Gerichten verwöhnt wurden. Das Picknick kam dann zu einem jähen Ende als ohne große Vorwarnung ein starker Sturm und Regen aufkam. Wir packten zusammen und fuhren zurück in die Stadt. Dies wurde erschwert durch die Wassermengen, die nicht schnell genug ablaufen konnten.



Wir mussten langsam fahren, und als das Auto unserer Freunde, die vorausfuhren, eine grüne Ampel passierte, stellte die Ampel auf rot bis wir dorthin kamen. Ich sagte zu Dieter „da kommst du nicht mehr rüber“, aber er meinte „klar komm ich“ und fuhr über die rote Ampel. Nun gut, der Regen hörte so schnell auf wie er angefangen hatte und wir entluden unseren Transporter im Hauptquartier unserer Partner.

Als Teil der Abendgestaltung gab es Geschenke für uns. Zum Beispiel überreichte uns Vizebürgermeister Volodymyr Koval sogenannte „Hundemarken“, die Soldaten um den Hals tragen um im Fall einer Verwundung oder ihres Todes leicht identifiziert werden zu können.

In meinem Fall enthält die Marke anstatt persönlicher Information wie zum Beispiel der Blutgruppe die Aufschrift „Für Hilfe und Unterstützung für die Ukraine anlässlich der 10. Humanitären Mission in der Ukraine“. Ihr könnt euch vorstellen wie stolz ich war.


Die Nacht schlief ich wegen der Menge des konsumierten Horilka (bei uns bekannt unter dem russischen Namen Wodka) sehr tief. Am nächsten Morgen erzählte mir Dieter, dass es in der Nacht einen Luftalarm gab und Autos durch die Stadt fuhren und per Lautsprecher Anweisungen gaben. Er hat natürlich nichts verstanden und hat entschieden, zu bleiben wo er war. Ich bekam von der ganzen Sache überhaupt nichts mit. Der Alarm war wegen eines feindlichen Flugkörpers über der Westukraine und wurde sehr großflächig ausgelöst. Der Angriff war aber (wie üblich) nicht gegen Chervonograd gerichtet, und der Flugkörper wurde von der Luftabwehr abgeschossen.

Für unsere Freunde war das eine ganz normale Situation, und wir frühstückten gemeinsam im „Lviv Croissants“. Das ist eine Restaurantkette, bei der es eine Art Burger gibt, aber anstatt der bei uns üblichen Burger-Patties ist das gewählte Sandwich in einem Croissant.

Direkt vor dem Restaurant hat die Stadt auf einem freien Platz eine Gedenkstätte eingerichtet für die Gefallenen des Kriegs.

Es sind Plätze wie dieser wo einem die Grausamkeit und Brutalität des Kriegs besonders bewusst wird. Noch stärker werden diese Gefühle am Friedhof, den wir als nächstes besuchten. Der Teil, in dem die gefallenen Soldaten begraben liegen ist bei jedem meiner Besuche größer. Inzwischen habe ich schon aufgehört, diese Gräber zu zählen.

Dann fuhren wir nach Lviv, was etwas mehr als eine Autostunde entfernt liegt. Es war das erste Mal, dass wir so einen längeren Ausflug machten. Auf der Fahrt wurden wir von der Polizei gestoppt. Sie erklärten uns sehr freundlich, dass in der Ukraine eine Verkehrsregel ist, dass man außerhalb von geschlossenen Ortschaften die Autoscheinwerfer immer angeschaltet haben muss, was wir nicht hatten. Bei ihrer routinemäßigen Dokumentenkontrolle wollten sie eine Versicherungsbestätigung für das Auto sehen, aber so etwas hatten wir nicht dabei. Das zog eine längere Diskussion nach sich, aber letzten Endes blieb ihnen nichts anderes übrig als uns weiterfahren zu lassen, Richtung Lviv.

Lviv ist die größte Stadt in der Westukraine, und die Volksmeinung ist: Kyiv ist das Herz der Ukraine, aber Lviv ist die Seele. Unser erster Stopp war Mars Field, der Soldatenfriedhof. Natürlich ist der Friedhof dieser Großstadt noch einmal um einiges beeindruckender und bedrückender, und mit dem Zählen von Gräbern kann man hier gar nicht anfangen.

Auf dieser Übersicht kann man anhand der Nummerierung der Sektionen gut erkennen, dass der Friedhof ursprünglich kleiner geplant war. Nach den ersten fünf Sektionen wurde eine zweite Reihe angefangen, aber nach Erreichen von Sektion 11 wurden beide Reihen parallel weitergeführt.

Es ist leider abzusehen, dass man bald eine dritte Reihe beginnen muss.

Nach dem Friedhof besichtigten wir ein Freiluftmuseum, in dem ein Dorf aufgebaut war, das typische ukrainische Architektur über die Jahrhunderte zeigt.

Beim anschließenden Bummel durch die Innenstadt lernten wir, dass Lviv die Heimat von Ivan Fjodorov ist, der als Begründer des kyrillischen Buchdrucks gilt, und der damit eine ähnliche Bedeutung hat wie bei uns Johannes Gutenberg. Weiters erfuhren wir, dass Lviv die „Welthauptstadt der Cafes“ ist. In der Tat gab es fast an jeder Ecke ein Straßencafe, und alle waren gut besucht. Man will hier bewusst demonstrieren, dass man ein normales Leben führt und sich nicht vom Krieg in die Knie zwingen lässt. Auch die vielen Museen sind gut besucht, und in den Parks sieht man „normale“ Bilder wie Straßenmusikanten, Pferdekutschen oder Menschen beim Schachspielen. Aber auch die andere, die „nicht normale“ Seite ist sichtbar. Beispielsweise der klare Frauenüberschuss, der überall zu sehen ist. Viele Männer sind eben im Krieg oder sogar schon nicht mehr am Leben. Auch andere Kleinigkeiten deuten hin auf eine außergewöhnliche Situation. Beim Anschauen der Statue der Jungfrau Maria meinte ich, dass die Statue wohl gerade renoviert wird.

Die Wahrheit ist aber, dass die Eingerüstung eine Schutzmaßnahme ist, damit die wertvolle Statue einen Luftangriff überleben kann.

Auch sahen wir einen Mann, der ganz offen im Park Gewehre verkaufte.

Der Höhepunkt des Tages war die Einkehr im Kryjiwka. Laut ihrer eigenen Webseite sind sie das meistbesuchte Restaurant in Europa. Es liegt unterirdisch im Stadtzentrum und war in der Vergangenheit das Versteck der ukrainischen Widerstandsbewegung. Die Einrichtung des Lokals ist diesem Motto angepasst und man sieht überall Hinweise auf Krieg, Besatzung und Freiheitskampf. Um eingelassen zu werden muss man dem Türsteher ein Passwort sagen, das ich nach einiger Übung auch geschafft habe. Neben typischem Essen und Getränken und dem unvergleichlichen Flair (nicht ganz unvergleichlich: mich hat das Lokal sehr an das „KGB Pub“ in Bratislava erinnert) bietet das Lokal einen Schießstand. Dieter und ich haben den beide ausprobiert.

Die Zielscheibe, auf die man schießt zeigt das Gesicht des Erzfeindes.

Auf der Rückfahrt nach Chervonograd machten wir Halt in Zhovkva. Dort trafen wir Roman Buts, den Priester der dortigen Basilien Monastery, einer riesigen griechisch-katholischen Kirche. Ich kannte Roman schon von einer früheren Fahrt, da er bei unserer Partnerorganisation in Chervonograd arbeitet. Er stammt aus der Ostukraine und musste bei Kriegsbeginn fliehen. In Zhovkva bekam er dann die Priesterstelle. Mit seinen guten Ortskenntnissen im Osten des Landes agiert er als einer der Fahrer, die Hilfsgüter aus der Westukraine in den Osten bringen und dort verteilen. Er unternahm seit Kriegsbeginn mehr als 50 solche Fahrten, bei denen er Güter wie zum Beispiel wir sie bringen unter Lebensgefahr zu den Endempfängern bringt. Im Bild unten ist Roman der dritte von rechts.

Roman gab uns eine private Führung durch seine Kirche, die unter anderem dadurch bekannt ist, dass die vielen Wand- und Deckengemälde zwar typisch katholische Ereignisse zeigen, die Menschen auf diesen Gemälden aber in ukrainischer Landestracht gekleidet sind.

Zurück in Chervonograd gab es einen letzten gemeinsamen Abend, der zunächst mit einem der vielen geplanten Stromabschaltungen anfing. Bei Taschenlampen und Kerzen machten wir es uns gemütlich, bis der Strom wieder eingeschaltet wurde. Nach der üblichen reichlichen Portion Horilka schliefen wir ein paar Stunden und traten dann eine ereignislose Heimfahrt an.