Im Juni 2022 wagten Uli Fößmeier und Dieter erstmals eine direkte Lieferung der Hilfsgüter bis nach Chervonohrad in der Westukraine – statt wie zuvor an der Grenze zu übergeben. Trotz sorgfältiger Vorbereitung kostete der Grenzübertritt Zeit und Nerven, und die Weiterfahrt durch ein nächtliches Unwetter über kaputte Straßen brachte zusätzliche Strapazen. In Chervonohrad erwartete sie große Herzlichkeit, aber auch bedrückende Eindrücke: überfüllte Flüchtlingsunterkünfte, ein kranker Junge, und allgegenwärtiger Kriegsalltag. Die Helfer vor Ort, darunter auch die Stadtverwaltung, zeigten bewundernswerten Einsatz. Ein Besuch im örtlichen Hilfszentrum offenbarte die dringende Notwendigkeit weiterer Spenden, insbesondere Medikamente. Die Rückreise führte über einen bevorzugten Grenzübergang – mit ungeplanter Zollkontrolle – und endete mit einem kleinen symbolischen Geschenk: einem T-Shirt von Pussy Riot, als Zeichen der Solidarität. Kurz nach ihrer Abreise wurde in der Region ein russischer Raketenangriff gemeldet – ein weiterer Beleg für die ständige Bedrohung im ukrainischen Alltag.
Originalbericht
Am 10. Juni 2022 fuhren Dieter und ich wieder los. Für mich war es das vierte Mal, dass ich mich auf den Weg machte, um Hilfsgüter abzuliefern. Aber diesmal planten wir ganz anders als bisher. Bei den ersten drei Fahrten übergaben wir die Waren an der polnisch-ukrainischen Grenze an unsere Partner. Diesmal lieferten wir direkt an den Bestimmungsort: Cervonohrad. Dafür gab es verschiedene Gründe. Unter anderem hofften wir Zeit zu sparen, wenn wir anstelle einen kleinen Grenzübergang anzusteuern einfach auf der Autobahn bis Lemberg (Lviv) fahren können.

Bei einer erwarteten Fahrtzeit von etwa 14 Stunden starteten wir um 4:00 Uhr und hofften zum Abendessen bei unseren Gastgebern zu sein.
Da es das erste Mal sein sollte, dass wir komplett in die Ukraine einreisen, haben wir die Fahrt peinlich genau vorbereitet. Aus mehreren Telefonaten und emails mit der ukrainischen Botschaft und dem Konsulat in München hatte ich eine Liste von Dokumenten zusammengestellt, die möglicherweise verlangt würden, und diese alle besorgt und in einem dicken Ordner abgeheftet.
Die Fahrt war zunächst ereignislos. Mehrere Male sahen wir Kriegsmaterial auf dem Weg nach Osten. Dieses Foto entstand noch in der Tschechischen Republik.

Die Mautbefreiungen, die ich vorbereitet hatte, funktionierten wunderbar und wir mussten nie etwas zahlen.
Unser ursprünglicher Plan wurde aber schon vor Fahrtantritt geändert. Am Tag vor der Fahrt hatte ich ein Telefonat mit Tatiana, die in Przemysl (Polen, nahe der ukrainischen Grenze) für eine Hilfsorganisation arbeitet. Sie sagte mir, dass beim Autobahngrenzübergang 4-6 Stunden Wartezeit zu erwarten sei. Sie würde uns aber helfen, schnell über einen kleinen Grenzübergang (Medyka) einzureisen, der nur 10 Kilometer entfernt ist. Wit kamen gegen 17:00 Uhr in Przemysl an. Allerdings war Tatiana noch unterwegs aus der Ukraine, und wir warteten erst einmal eine Stunde. Die Damen der polnischen Organisation waren sehr nett und begleiteten uns zur Grenze.

Auf der polnischen Seite war ein LKW-Stau von mehreren Kilometern Länge. Tatjana sagte, dass die Wartezeit für LKWs für die Einreise etwa vier Tage ist. Wow.
Obwohl nur fünf andere Fahrzeuge vor uns in der Schlange waren, dauerte der Grenzübertritt drei Stunden. Der Hauptgrund dafür war der ukrainische Zoll. Der Zöllner nahm voller Begeisterung die Liste der eingeführten Güter, die ich vorbereitet hatte, und verschwand damit über eine Stunde. Schließlich kam er zurück, gab mir die Liste zurück und zeigte voller Stolz auf einen Stempel, den er angebracht hatte. Ich nehme nun an, dass er die Liste (und die zugehörigen Rechnungen) genau überprüft hat und die Ausfuhr bestätigt hat. Was ich daraus für weitere Fahrten lernte ist: ich sollte diese Liste für alle Fälle dabei haben, aber nur auf Verlangen vorzeigen. Das könnte viel Zeit sparen.
Gegen 21:00 Uhr (das ist aber schon 22:00 Uhr in der Ukraine) war es soweit:

Nun stellten wir fest, dass die Weiterfahrt nach Cervonohrad noch über zwei Stunden dauert. Das lag vor allem daran, dass wir ja nicht auf der Autobahn fuhren. Auch kamen wir in ein Gewitter, das zu den stärksten gehört, das ich je erlebt habe. Und manche Schlaglöcher waren so tief, dass gefühlt das ganze Auto darin versank. Nach weiteren kleinen Missverständnissen mit unseren Gastgebern Oksana und Igor erreichten wir ihre Wohnung gegen 1:00 Uhr nachts.

Nun hatte Oksana schon seit zwei Tagen für unsere Ankunft gekocht, also gab es trotz der späten Uhrzeit ein Abendessen:

Unser ursprünglicher Plan war, am nächsten Tag in der Früh zurückzufahren. Es war aber schon klar absehbar, dass das nicht funktioniert. Wegen der späten Ankunft konnten wir ja nicht mal unsere Waren ausladen. Also beschlossen wir, am nächsten Tag bis zum Nachmittag zu bleiben, dann nach Polen zu fahren (um eine mögliche Wartezeit an der Grenze am Rückfahrtag zu vermeiden), und dort in einem Hotel zu übernachten. Vor dem Schlafengehen gegen 3:30 Uhr erklärte uns Igor noch: „wenn ihr in der Nacht einen Alarm hört, dann ist das wegen eines Raketenangriffs. Aber die Raketen fliegen immer über uns hinweg, deren Ziele sind woanders. Schlaft einfach weiter.“ Sehr beruhigend. Übrigens behielt Igor recht. Die Nacht war ruhig.
Zum Frühstück durften wir die Kinder der Familie kennenlernen:

Gleich zum Frühstück wurde der Fernseher eingeschaltet. Ich erwartete ein Kinderprogramm, statt dessen läuft aber den ganzen Tag Kriegspropaganda. Man sieht, wie ukrainische Soldaten russische Flugzeuge abschießen, und immer wieder sieht man Präsident Selenski Durchhalteparolen skandieren. Unsere Gastgeber erzählten, dass Selenski jeden Tag neue Reden im Fernsehen abgibt.
Die Kinder wachsen also etwas anders auf als wir das gewohnt sind. Andrerseits sieht das Straßenbild völlig normal aus, mit Leuten beim Einkaufen und spielenden Kindern.
Nach dem Frühstück gab Oksana uns eine Führung durch die Stadt und Umgebung. Unterstützt wurde sie dabei von Nadia, einer Freundin, die ein bisschen Deutsch spricht und als Dolmetscherin fungierte. Während wir durch die Stadt spazierten machte ich heimlich dieses Foto:

Und kurz danach stellte sich heraus, dass dieser Mann unser Fahrer war für den zweiten Teil der Führung. Wir sahen eine Kohlenmine sowie ein kleines Museum im lokalen Schloss. Dort erklärten sie uns, dass die Ukraine die erste ehemalige Sovietrepublik war, die die Leninstatuen abgebaut hatte. Ich weiß nicht, ob andere ehemalige Sovietrepubliken diese Ehre auch für sich in Anspruch nehmen.
Als wir über eine Brücke fuhren, musste der Fahrer im Zickzack fahren:

Strategisch wichtige Straßen werden jetzt schon durch Sperren für die Durchfahrt von Panzern blockiert.
Der nächste Stopp war ein Kindergarten, der in ein Flüchtlingsheim umfunktioniert worden war. Dort gibt es nun keine Kinder aus dem Ort mehr, sondern nur noch Flüchtlinge aus der Ostukraine. Viele dieser Fliehenden möchten nämlich das Land nicht verlassen und bleiben dann im Westen der Ukraine, wo es außer gelegentlichen Raketenangriffen keinen Krieg gibt. Cervonohrad hat 60.000 Einwohner, und momentan dazu 10.000 Flüchtlinge. Aus Gründen der Ethik und des Respekts wollte ich in dem Flüchtlingsheim keine Fotos machen, aber eine Aufnahme ohne Personen drauf gibt es doch:

Dieses war der mit Abstand luxuriöseste Schlafsaal. In allen anderen lagen die Matratzen dicht aneinander und eine Person hat etwa zwei Quadratmeter Wohnfläche, die sie zum Teil noch miit Kindern und Tieren teilen muss. Eine Frau sprach mich an, und unsere Dolmetscherin meinte, die Frau fragt ob wir für ihren Sohn Medikamente besorgen können. Da sah ich mir den etwa vierjährigen Jungen an und sah, dass er über einen Tubus atmete, der aus seinem Hals kam. Ich verbrachte die ganze Heimfahrt am nächsten Tag damit zu planen wie wir helfen können. Inzwischen haben wir der Familie angeboten, sie nach Deutschland zu bringen, was sie aber ablehnten. Nun sind wir in der Vorbereitung eines neuen Transports nach Cervonohrad, bei dem wir unter anderem Medikamente liefern wollen.
Danach ging es zum Hauptquartier der dortigen Hilfsorganisation zum Ausladen unserer Güter.

Die Herren mit Brille sind Dieter und ich, die beiden Damen unsere Gastgeber und Reiseführer. Der Rest sind freiwillige Helfer der Organisation. Im Hauptquartier werden die ankommenden Waren vorsortiert nach Art (Lebensmittel, Hygieneartikel, usw.) und Bestimmung. Alles wird in den Osten der Ukraine weitergeschickt, zum Teil geht es an Zivilisten und zum Teil an Soldaten. Unser bisheriger Hauptkontakt Oleg war an diesem Tag gerade unterwegs im Donbass, um Güter auszuliefern.

Der Raum mit Lebensmitteln war bei unserer Ankunft fast leer, am Ende sah er so aus:

An einer Wand im Hauptquartier waren Briefe aufgehängt, die die Organisation aus den USA erhalten hatte:

Am Ende konnten wir noch mit der Vizebürgermeisterin sprechen, die für die Hilfsorganisation verantwortlich ist:

Dabei konnten wir gleich einige zukünftige Pläne für weitere Hilfe durchsprechen.
Zurück ging es zu Oksana und Igor und dem nächsten Essen. Oksanas Vater war dabei und bestand darauf, dass wir kurz sein Haus ansehen (das nur aus den Mauern besteht, er baut es gerade zu einer Wohnung aus), und ein paar Flaschen eines selbstgemachten Getränks mitnehmen. Eine Art Birkensaft, den ich am besten mit unserem Most vergleichen möchte, aber ohne Alkohol.
Die Rückfahrt verlief fast wie geplant. Hier ein Foto, das zeigt wie sehr die Ukraine von der Landwirtschaft dominiert wird:

Wir beschlossen, über den uns schon bekannten kleinen Grenzübergang zu fahren, an dem es kaum Schlangen gibt. Wir hätten den Grenzübertritt auch fast in einer Stunde geschafft, wenn nicht der polnische Zoll beschlossen hätte, das gesamte (fast leere) Auto auseinanderzunehmen auf der Suche nach wer-weiß-was.

Das hat eine weitere Stunde gedauert. Gefunden haben sie natürlich nichts, was auch? Trotz dieses Pechs mit dem Zoll kann ich für Fahrten nach Cervonohrad den Grenzübergang Dolhobyczow als mit Abstand beste Variante empfehlen.
Wir verbrachten die Nacht in einem Hotel in der Nähe von Rzeszow und fuhren am nächsten Tag nach Hause, tief mit unseren Gedanken beschäftigt.
Zum Ende noch eine kleine Anekdote: meine Schwägerin ist Ärztin und hat einer russischen Patientin von meinen Fahrten erzählt. Diese Patientin kennt die Mitglieder der Musikgruppe Pussy Riot persönlich und hat diese Fahrten bei einem Treffen erwähnt. Daraufhin gab die Chefin der Pussy Riot ihr ein T-Shirt für mich mit:

Gute Taten zahlen sich immer aus.
Und noch ein Nachtrag: unsere Nacht in Cervonohrad verlief zwar ruhig, aber nur zwei Stunden nach unserer Abreise passierte dieses:
https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-sonntag-147.html
12.6.2022 • 22:16 Uhr
Russland: Großes ukrainisches Waffenlager zerstört
Das russische Militär hat nach eigenen Angaben ein großes Waffenlager im Westen der Ukraine zerstört. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, erklärte, Raketen des Typs Kalibr hätten nahe der Stadt Tschortkiw in der ukrainischen Region Ternopil „ein großes Depot von Panzerabwehrraketensystemen, tragbaren Luftverteidigungssystemen und Granaten getroffen, die dem Kiewer Regime von den USA und europäischen Ländern geliefert wurden“.
Der Gouverneur von Ternopil, Wolodymyr Trusch, erklärte dagegen, bei Raketenangriffen auf Tschortkiw seien 22 Menschen verletzt worden, darunter sieben Frauen und ein zwölfjähriger Junge. Eine militärische Einrichtung sei teilweise zerstört, vier Wohngebäude beschädigt worden.
Auf der Karte sieht man, dass das Angriffsziel tatsächlich 200 Kilometer von Cervonohrad entfernt liegt. Es war also genau wie Igor gesagt hatte.

Uli Fößmeier